Biographie | ||
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1844 | geboren in Röcken bei Lützen; Vater: protestantischer Pfarrers, musisch begabt; Mutter: Pfarrerstochter, gebar Friedrich mit 18 Jahren |
Kontaktprobleme "der kleine Pastor" Erziehung durch frömmelnde Frauen Andersartigkeit, Drang zum Universalwissen |
1849 | Vater starb an Gehirnerweichung
Familie zieht nach Naumburg um; Friedrich hat Kontakt- und Anpassungsschwierigkeiten; ist sensibel und introvertiert; musikalisch und literarisch (mit 10 Jahren erste Gedichte) begabt; besitzt gute Bibelkenntnisse (wird mit 10 Jahren "der kleine Pastor" genannt) seine zwei Jahre jüngere Schwester vergöttert ihn; erzogen wird er von seiner Mutter, zwei frommen Tanten und seiner Großmutter. "Die Erziehung durch frömmelnde Frauen dürfte der erste Schritt in Richtung Antichristentum gewesen sein." Das Christentum erschien ihm als eine schwächliche, demütige, dekadente Angelegenheittrat in der Knaben-Bürgerschule durch Bewußtsein seiner Andersheit und Drang zum Universalwissen hervor. |
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1858-64 | Schüler der strengen humanistischen Internatsschule in
Pfort, erhält dort eine glänzende philologische
Ausbildung
zieht sich von seinen Schulkameraden zurück, hängt seinen Gedanken nach, schreibt und komponiert, leidet unter Kopfschmerzen wird zusammen mit Paul Deussen konfirmiert (Deussen: "Wir wären bereit gewesen, sogleich abzuscheiden, um bei Christo zu sein.") Interessen: Hölderlin (»heilige, weltentrückte Stimmung«), Salust, Rousseau, Lord Byron (Satiriker mit Hang zum Exotischen), Jean Paul; Wagners Musik gerät auf Distanz zur traditionellen Gläubigkeit, wird von der historisch-kritischen Methode angezogen. 11. Klasse Aufsatz: "Zweifel am Kinderglauben"; in der Oberstufe: Überlegenheitsgefühle, Einsamkeit, Loslösung vom Kinderglauben in ironisierender Form; gründet zusammen mit zwei Freunden die literarisch-musikalische Vereinigung Germania hält mit 18 Jahren einen Vortrag "Das ganze Christentum gründet sich auf Annahmen" (ein Atheismus darf nicht nur niederreißen, sondern muß auch wiederaufbauen); dadurch, daß zu Hause keine Auseinandersetzung mit dem Glauben stattfand (Mutter verbot jegliche moderne Theologie), baute er sich seine eigene Welt des Zweifels isoliert auf und entfremdete sich von der Mutter. |
historisch-kritische Methode isolierte Welt des Zweifels |
1864 | Studium der Theologie und klassischen Philologie in Bonn;
tritt der Verbindung »Franconia« bei; nur
Saufgelage, »vertane Zeit«
findet in einem Antiquariat Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung und hat ein durchschlagendes Bildungserlebnis: "Hier war jede Zeile, die Entsagung, die Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interessenlose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, nach Selbstzernagung packte mich gewaltsam." Schopenhauer ist die Ersatzreligion des Atheismus liest David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu; Thesen: der Himmel ist auf der Erde, die Unsterblichkeit ist eine Illusion, die Auferstehung ist Humbug, Jesu ist ein überzogener Schwärmer. |
Schopenhauer |
1865 | wechselt an die Universität Leipzig und gibt sein
Theologiestudium auf
weigert sich, am Abendmahl teilzunehmen; Streit zu Hause, woraufhin die Mutter jegliches Gespräch über Theologie zu Hause verbietet. |
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1868 | Begegnung mit Richard Wagner ("der wie kein anderer das
Bild dessen, was Schopenhauer 'das Genie' nennt, mir
offenbart.")
seine philologischen Arbeiten finden Anerkennung; beschäftigt sich mit dem Buddhismus, glaubt aber an die Selbstbefreiung des Menschen durch Musik und Kunst; Askese, Selbstpeinigung; verliebt sich in eine Schauspielerin; schließt sich Fr. W. Ritschel an; Kurzentschluß zu einem Chemie-Studium und wollte deswegen nach Paris |
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1869 | als Vierundzwanzigjähriger wird ihm noch vor seiner
Promotion eine Professur in Basel angeboten, die er annimmt
(Lehrstuhl für Griechisch und Literatur).
Richard Wagner lebte in Luzern mit einer Cosima von Bülow (Tochter von Franz Liszt; war verheiratet mit einem Dirigenten); Nietzsche verliebt sich in sie, ohne es offen zu bekennen |
unerwiderte und geheime Liebe zu Cosima |
1870 | pflegt im Deutsch-Französischen Krieg freiwillig Kranke und wird selbst krank (Ruhr); seither Unterleibsschmerzen | |
1872 | seine Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik (Synthese aus Wagner und Schopenhauer) führt zum
Bruch mit der traditionellen Altphilologie, sein Ruf ist
ruiniert, die Studenten bleiben aus, der Gesundheitszustand
verschlechtert sich von nun an zunehmend.
Inhalt: Überwindung des harmonischen Griechenlandbildes der Klassik. In der griechischen Welt herrscht ein ungeheuerer Kampf zwischen den beiden feindseligen Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen, also zwischen dem Schein der schönen, maßvollen, heiteren Individuation und der überindividuellen, lustvoll-schmerzhaften Realität des einen Lebendigen; ein Kampf, der die attische Tragödie hervorbringt, deren ursprüngliche Lehre ist: "Die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit." |
Antisokratiker gegen Rationalismus |
1876 | geht auf Distanz zu Schopenhauer; Bruch mit Wagner,
distanciert sich von dem nationalistischen, reichsdeutschen
"Kulturphilistertum" Bayreuths sowie von Wagners
Antisemitismus und christlichen Auffassungen: "Richard
Wagner, scheinbar der siegreichste, in Wahrheit ein morsch
gewordener, verzweifelter décadent, sank plötzlich,
hilflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze
nieder."; "Alles erwogen, hätte ich meine Jugend
nicht ausgehalten, ohne Wagnerische Musik. Denn ich war
verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen
Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan,
ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen
alles Deutsche par excellence - Gift, ich bestreite es nicht."
mehrere Pläne, eine bürgerlich nützliche Heirat einzugehen, scheitern |
Bruch mit Wagner und Schopenhauer |
1878 | Aufgabe seiner Baseler Professur wegen ständiger Kopf- und Augenschmerzen, Erbrechen, Schwermut, wird 1879 pensioniert; erfährt, daß seine Rückkehr an eine Universität wegen seiner Stellung zum Christentum unmöglich ist ("Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Mut wieder"), sein Selbstlob beginnt sich ins Maßlose zu steigern sieht sich begeistert zwanzig Aufführungen von Bizets Carmen an und spielt Bizet gegen Wagner aus | |
1882 | Der Wille zur Macht
Die fröhliche Wissenschaft: Philosophische Aphorismen, die den Verdacht aufwerfen: "Bei allem Philosophieren handelte es sich bisher gar nicht um 'Wahrheit', sondern um etwas anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben..." Bei allen Wertvorstellungen, z.B. des Christentums, der Wissenschaft, muß gefragt werden, "wieviel Glauben einer nötig hat, um zu gedeihen, wieviel 'Festes', an dem er nicht gerüttelt haben will." schließt Freundschaft mit der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, verliebt sich in sie; überwirft sich mit seiner Schwester, die gegen die Beziehung intrigiert und einen führenden Vertreter der deutschen antisemitischen Bewegung heiratet, bezeichnet sich in einem Brief an sie als einen »unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten.« (»Zum Enthusiasmus für 'deutsches Wesen' hab ich's freilich noch wenig gebracht, noch weniger als zum Wunsche, diese 'herrliche' Rasse gar rein zu erhalten. Im Gegenteil, im Gegenteil."); nach Ablehnung des Heiratsantrages durch Lou flüchtet er nach Italien |
kritisch-negativer Sokratiker skeptisch-rational abgelehnter Heiratsantrag |
1883-85 | Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle
und Keinen. (Hauptwerk)
In der Figur des persischen Religionsstifters verkündet Nietzsche pathetisch in kurzen Reden seine allen Nihilismus überwindende Lehre vom "Übermenschen" und von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" |
Übermensch Ewige Wiederkehr des Gleichen |
1886 | Jenseits von Gut und Böse.
Zweifel an den Gegensätzen wahr und falsch. |
Vernichtungskrieg pathetische Religionskritik |
1887 | Zur Genealogie der Moral: Moralkritische
Aphorismen.
"Unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse? Und welchen Wert haben sie selbst. Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen?" Der Antichrist. Fluch auf das Christentum: Religionskritische Aphorismen. "Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratenen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht." "Der christliche Gottesbegriff - Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist." "Das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit." Ecce homo. Autobiographie. |
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1889 | Götzendämmerung
sieht, wie ein Droschkengaul erschlagen wird, umarmt weinend das Tier und bricht zusammen; er wird nach Hause getragen, wo er Zettel an Bekannte schreibt, die mit "Dionysos" oder "Der Gekreuzigte" unterzeichnet: '"Meinem maestro Pietro. Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich. Der Gekreuzigte." |
geistige Umnachtung |
1894 | Nietzsches elfjährige Geisteskrankheit, wahrscheinlich
von einer Syphilis herrührend, führt zu
Größenwahnvorstellungen und völliger
Umnachtung.
Deussen: "Ich erschien in der Frühe, da ich bald nachher abreisen mußte. Seine Mutter führte ihn herein, ich wünschte ihm Glück, erzählte ihm, daß er heute fünfzig Jahre alt werde, und überreichte ihm einen Blumenstrauß. Von alledem verstand er nichts. Nur die Blumen schienen einen Augenblick seine Teilnahme zu erregen, dann lagen auch sie unbeachtet da." |
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1900 | gestorben in Weimar |
Stichwort |
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Schopenhauer |
Darwin |
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Nietzsches Philosophie steht unter dem Eindruck des
Fortschrittsglaubens und des optimistischen Atheismus von
Feuerbach. Zwar wendet sich Nietzsche auch gegen die Theologen
- und das mit aller Schärfe und Härte -, doch
gleichzeitig greift er auch die allzu selbstsicheren
Atheisten an, die keine Leidenschaft empfinden. Für
Nietzsche lebten im Atheismus weiterhin christliche Ideen fort,
vorallem das absurde Vertrauen zum Gang der Dinge und zum
Leben. Die Menschheit ist keine Entwicklung zum Besseren,
Stärkeren, Höheren. Der Fortschritt ist eine
moderne, also falsche Idee. Nietzsches Glaube an die Kultur ist
zerbrochen.
Er nimmt Schopenhauer zum Ausgangspunkt, der in dieser Zeit zu einer Art Ersatzreligion für Atheisten wurde, für diejenigen, denen der Fortschrittsglaube zu optimistisch und das Christentum zu unglaubwürdig war. Schopenhauers Pessimismus und Rückzug auf Naturprinzipien (die mit Darwin noch mehr an Aktualität gewannen!) traf Jahrzehnte nach dem Erscheinen den Zeitgeist, vorallem jedoch schaffte er Nietzsches Ausgangspunkt |
Nietzsche begründet seinen Atheismus eigentlich nicht,
sondern setzt ihn als gegeben voraus. Sein Leben lang jedoch
verbleibt in Nietzsche ein Zweifeln, ein Sehnen; auch der
Vernichtungskrieg ist ohne diese starke emotionale
Betroffenheit nicht zu verstehen. Entgegen den anderen
Religionskritikern sieht er im Atheismus keine Alternative.
Vielmehr kommt mit ihm der Nihilismus herauf, der komplette
Wertverlust, die vollständige Desorientierung. »Gott
ist tot" ist zugleich der Befreiungsschrei einer Tatsache,
über die sich seine Zeitgenossen hinweggemogelt haben, und
eine erschütternde Gewißheit, die Grundlage allen
Lebens verloren zu haben.
Er nimmt die christliche Kirche seiner Zeit zum Ausgangspunkt und kritisiert sie als lebensfeindlich, unterdrückend, duckmäuserisch, das Abbild dessen, was ihm in seiner Kindheit vermittelt wurde. Seine Alternative, der »Übermensch", wird zu einer Art Ersatzreligion, der das genaue Gegenteil dieses »Christen" verkörpert, auch eine Gegenfigur zu ihm selbst, der von Krankheit geplagt war. |
Der tolle MenschNirgendwo hat Nietzsche dramatischer die ferneren Folgen des Atheismus angekündigt als in der Parabel vom "tollen Menschen". Adressat dieser Proklamation des Todes Gottes sind in erster Linie nicht die Theologen, sondern die oberflächlichen, leichtsinnigen, verantwortungslosen Atheisten. Gottes Tod bedeutet den großen Zusammenbruch, trostlose Leere (das ausgetrunkene Meer), einen aussichtlosen Lebensraum (der weggewischte Horizont), das bodenlose Nichts (die von der Sonne losgekettete Erde), den großen Sturz des Menschen. Nietzsche will in einer performativen Rede die ungeheueren Konsequenzen des Gottestodes deutlich machen. Nietzsche weiß aber auch, daß er mit seinen Einsichten zu früh kommt, daß seine Zeit noch nicht reif dafür ist. Das Zu-Göttern-Werden in der Parabel wird später im Zarathustra durch den Übermenschen präzisiert. |
Würdigung |
Kritik |
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Er ist fanatisch, verletzend, aristokratisch, seine Aussagen sind nicht ausreichend untermauert, historisch z.T. falsch und pauschalisierend. |
emotionale Philosophie |
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Machtmißbrauch der Kirchen zum Selbsterhalt. Einsetzung von psychologischen Zwangsmechanismen. Entfernung von der Lehre Jesu |
Machtausübung der Kirchen |
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Man darf Gläubige nicht zu duckmäuserischen Menschen heranziehen, Gott nicht alle starken, heldenhaften Attribute nehmen | Ist das Christentum wirklich nur eine Religion für Schwächlinge, das Ressentiment Zu-kurz-Gekommener? Kann es nicht vielmehr eine Quelle für Stärke sein, für Aufbegehren? |
Christentum darf keine Schwächlingsreligion sein |
Er hat die Sinn- und Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaft vorausgesehen. | Fragwürdigkeit des Übermenschen.
Haben die Opfer der Industrialisierung und die Opfer der kapitalistischen Gesellschaft, sowie die generelle Orientierungslosigkeit nicht gezeigt, daß diese Alternative nicht greift, ja höchst gefährlich ist? |
Orientierungslosigkeit
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Wegbereiter für den Nationalsozialismus. (Züchtung" von Menschen, Rechtfertigung des Krieges). Obwohl wahrscheinlich nicht in Nietzsches Sinne, lieferte er den geistigen Unterbau für den Eroberungskrieg und die Massenvernichtung von Schwachen und Kranken. |
Wegbereiter für den Nationalsozialismus |
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Seine Urteile über Demokratie und des Sozialismus entbehren der Auseinandersetzung und des Fachwissens. |
keine Auseinandersetzung |
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Er zielte auf die Schaffung einer technokratisch-aristokratischen Elite ab, die konsequent zu Ende gedacht in einer Dystopie wie BNW endet. |
elitäre und aristokratische Tendenzen gefährlich |
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Er war alles andere als ein Übermensch: schwärmerisch, zart, verletzlich, schwach, schüchtern, krank. Er lebte in einer Schattenwelt. |
Er war kein Übermensch |
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Erkenntnis, daß Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit auch persönliche Schwächen verdecken können (ontologische Unsicherheit). |
Nächstenliebe nicht immer uneigennützig |
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In der Kirchengeschichte zeigte sich das Christentum leibfeindlich und lebensverneinend. | Das Urchristentum war nicht asketisch und lebensverneinend. |
Lebensfeindlichkeit des Christentums |
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© Andreas Schmidt 1997
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